Werkstattbericht AUDI AG: Statement Kira Marrs

 

Wir stärken Frauen in der Produktion: ISF-Wissenschaftlerin Kira Marrs zieht Bilanz

Agil, selbstbestimmt und sozialpartnerschaftlich. So lautet das Erfolgsrezept der Betrieblichen Praxislaboratorien. Dr. Kira Marrs hat dieses neue Instrument zur Gestaltung der modernen Arbeitswelt mitentwickelt, das Lab in der Audi-Lackiererei initiiert und mit ihrer wissenschaftlichen Expertise begleitet. Über ihre Lernerfahrungen mit dem ersten Laboratorium in der Automobilindustrie berichtet sie hier.

Das Ziel: Flexibleres Schichtsystem und bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf © ISF München

Für Frauen wehte lange Zeit ein rauer Wind in der industriellen Produktion: Nicht aus der Reihe tanzen und sich möglichst gut den Standards einer männlich dominierten Arbeitswelt anpassen, lautete die Devise. In einem solchen Kosmos gestaltet sich der Arbeitsalltag für Mitarbeiterinnen in der Produktion zuweilen schwierig. Führungspositionen liegen hier eigentlich außerhalb des Vorstellbaren und sind definitiv nichts für Zartbesaitete. Von Diversity-Initiativen weitestgehend unentdeckt, richten viele ihre Hoffnungen darauf, dass sich überkommene Geschlechterstereotype im Zuge des Generationenwechsels aufbrechen lassen. Immer mehr erkennen aber auch: Der Kern des Problems steckt tief in den Strukturen.

Aber gerade an der Stelle kommt jetzt Bewegung ins Spiel – auf Druck von außen, aber auch aufgrund der Veränderungen im Unternehmen selbst. Zum einen treffen neue gesetzliche und tarifvertragliche Ansprüche auf Teilzeit mit neuen Flexibilisierungsansprüchen vor allem von jüngeren Frauen und Männern in der Produktion zusammen. Zum anderen zwingt der gegenwärtige Umbruch in der Automobilindustrie die Unternehmen, sich auf allen Ebenen neu aufzustellen und mit Blick auf Arbeit, Organisation und Führung von traditionellen Vorstellungen und Vorgehensweisen zu verabschieden. Dass derart grundlegende Veränderungen nicht über die Köpfe der Menschen hinweg funktionieren und einen Perspektivenwechsel erfordern, ist den Akteuren mittlerweile klar geworden.

Den Umbruch als Chance für mehr Geschlechtergerechtigkeit nutzen

Ziel unseres Forschungsvorhabens #WomenDigit ist es, diesen grundlegenden Umbruch zu nutzen, um mit den alten Strukturen und Kulturen auch die alten geschlechtsspezifischen Begrenzungen aufzubrechen. Dafür müssen wir zwei Dinge tun: Erstens die Interessen und Perspektiven von Frauen zu einem integralen Bestandteil der aktuellen Transformation machen. Zweitens Frauen und Männer gleichermaßen befähigen, diese Prozesse zu gestalten. Dazu setzen wir auf das Konzept des Betrieblichen Praxislaboratoriums, dessen Grundprinzipien „Agilität, Beteiligungsorientierung und Sozialpartnerschaft“ auch das Fundament unseres außergewöhnlichen Praxislaboratoriums „Flexibler Einsatz in der Schicht“ bei der AUDI AG bilden.

„Das Betriebliche Praxislaboratorium erweist sich als Erfolgsrezept für die Gestaltung der industriellen Produktion.”

 

Für das Unternehmen ist das Praxislaboratorium ein Leuchtturmprojekt im Rahmen eines Transformationsprozesses, das, mit hoher Priorität und großem Personaleinsatz ausgestattet, bisherige Vorgehensweisen durch den agilen und beteiligungsorientierten Ansatz radikal auf den Kopf stellt. Für uns beinhaltet das Laboratorium Chance und Herausforderung zugleich: Funktioniert ein für indirekte Bereiche entwickeltes Vorgehensmodell, das gerade auf die Erfahrungen von Beschäftigten mit agilen Methoden und Projektarbeit setzt, auch in der industriellen Produktion und mit Produktionsbeschäftigten ohne große Vorkenntnisse? Die Antwort ist eindeutig: Ja, es funktioniert.

Rütteln an den traditionellen Standards der Industriearbeit

Mit unserem Lab rütteln wir an den traditionellen Standards der Industriearbeit. Wir erarbeiten Konzepte, die mehr Arbeitszeitflexibilisierung für alle Produktionsbeschäftigten ermöglichen und modernen Anforderungen an die Vereinbarkeit von Beruf und Familie auch in den sogenannten direkten Bereichen Rechnung tragen. Dafür setzen wir auf ein gemischtes Team aus rund zehn Frauen und fünf Männern aus der Produktion, das seine selbstständig gesetzten Ziele in agilen Sprints bearbeitet. Beraten und unterstützt von einem hochrangig besetzten Lenkungskreis aus Management und Betriebsrat und uns als wissenschaftlicher Begleitung, gestalten hier vor allem die Mitarbeitenden, die direkt betroffen sind, neue Ideen für die Arbeitswelt der Zukunft. So werden praktisch im Herzen des Unternehmens agile Innovationen vorangetrieben.

Damit einher geht eine radikale Neubesetzung tradierter Rollen. Wie aber befähigt man Menschen, die aus einer hierarchischen Arbeitsorganisation kommen, ihre bisherige Rolle über Bord zu werfen und Aufgaben zu übernehmen, die bislang Führungskräften vorbehalten waren? Wie schafft man es, dass sie ihre neue Rolle als eigenverantwortlich Gestaltende auch tatsächlich einnehmen? Einfach den Schalter umlegen und teils jahrzehntelang eingeübte Verhaltensmuster hierarchisch-tayloristischer Arbeitsorganisation auslöschen dürfte hier nicht die Lösung sein. Das Konzept des Betrieblichen Praxislaboratoriums gibt eine neue Antwort auf diese Fragen und schließt damit eine Lücke in den bisher vorherrschenden Transformationsstrategien.

„Wir öffnen einen sozialen Lernraum für neue Formen der Zusammenarbeit auf Augenhöhe.”

 

Es öffnet einen sozialen Lernraum, in dem Beschäftigte und Führungskräfte erleben, wie alte, hierarchische Umgangsweisen neuen Formen der Zusammenarbeit „auf Augenhöhe“ weichen, und in dem sie ihre neuen Rollen erproben können. Diesen geschützten Lern- und Experimentierraum zu initiieren und durch Impulse weiterzuentwickeln ist eine der wichtigsten Aufgaben der wissenschaftlichen Begleitung. Dass dies mit dem Praxislaboratorium gerade in der Produktion so gut gelungen ist, werten wir als großen Erfolg. Er spricht für das Vertrauen und den Mut von Management und Betriebsrat, sich auf innovative Methoden einzulassen und neue Wege zu beschreiten. Er spricht vor allem auch für das Engagement und Interesse der beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Positiventwürfe für die digitale Zukunft aktiv mitzugestalten. Für die Beteiligten sind bessere Entwicklungschancen von Frauen der Lackmustest für eine menschengerechte Gestaltung der zukünftigen Arbeit in der Lackiererei insgesamt. Auch in diesem Sinne war es eine ermutigende Initiative, die zeigt: Wir können die moderne Arbeitswelt gemeinsam und im Sinne der Menschen gestalten.

Zum Konzept des Betrieblichen Praxislaboratoriums: https://womendigit.de/warum-praxislaboratorien/

 


Dr. Kira Marrs forscht am ISF München zur Zukunft der Arbeit und der Gesellschaft und richtet ihren Fokus auf die Förderung der Entwicklungschancen und Karrieren von Frauen in der digitalen Transformation. Als eine der führenden Expertinnen auf diesem Gebiet setzt sie sich für eine neue, gendergerechte Arbeitswelt ein und gestaltet diese aktiv mit. Sie leitet das BMAS-Projekt #WomenDigit. 2019 erhielt sie für ihre Forschungsarbeit und ihr Engagement den „25-Frauen-Award für Frauen, die mit ihrer Stimme unsere Gesellschaft verändern“.


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