Werkstattbericht Atruvia AG: Interview

 

Agile Veränderungskultur:
Eine Aufgabe für Jahre

Agilität und betriebliche Mitbestimmung in Einklang bringen, die Mitarbeitenden im Wandel begleiten und befähigen, eine neue Unternehmenskultur mit vorantreiben und einen Handlungsrahmen für Agilität bauen: In diesem Gespräch berichten Peter Maier und Christiane Mild über die Herausforderungen, vor denen der Betriebsrat der Atruvia AG gegenwärtig steht. Sie begleiten das Lab im Lenkungskreis und sind sich einig: Agilität bietet Möglichkeiten für mehr Genderdiversität. Sie zu nutzen fordert auch den Betriebsrat.

 

 

 

Peter Maier, Betriebsratsvorsitzender der Atruvia AG Karlsruhe

Christiane Mild, stellvertretende Betriebsratsvorsitzende der Atruvia AG Münster

Herr Maier, Frau Mild, Sie setzen sich dafür ein, dass im neuen agilen Setting der Atruvia AG niemand verloren geht. Was bedeutet die Transformation für die Belegschaft?

Peter Maier: Die agile Transformation hat unsere hierarchischen und kooperativen Strukturen kräftig durcheinandergewirbelt und die Arbeitssituation der Mitarbeitenden grundsätzlich verändert. Das ist nicht vergleichbar mit dem Austausch eines Tools oder einer neuen Arbeitsanweisung. Das ist ein Prozess, der den Beschäftigten erhebliche Veränderungsbereitschaft abfordert. Ein Teil der Belegschaft kommt damit sehr gut klar, ein anderer Teil tut sich schwer damit, die eigene Arbeitswelt in einer agilen Organisationsstruktur abzubilden.

Christiane Mild: Wir haben es ja mit zwei Aspekten zu tun. Zum einen mit der flächendeckenden Anwendung agiler Arbeitsmethoden. Sie erfordert Schulungen und Qualifizierungen und – im Hinblick auf das Alter der Belegschaft – in manchen Fällen auch die Schaffung neuer Perspektiven. Zum anderen geht es darum, eine neue Haltung gegenüber Veränderungen zu entwickeln, die persönliche Anpassungsfähigkeit zu verbessern, selbst Verantwortung für die berufliche Entwicklung zu übernehmen. Und das ist eine besondere Herausforderung.

 

Mitbestimmung an die agile Arbeitswelt anpassen

Und vor welchen Herausforderungen steht der Betriebsrat?

Christiane Mild: Eine unserer wesentlichen Aufgaben ist der Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit. Gemeinsam mit dem Arbeitgeber müssen wir die Rahmenbedingungen schaffen, die es braucht, um alle Mitarbeitenden bei den notwendigen Veränderungen mitzunehmen. Das erfordert unter anderem passende Qualifizierungsangebote, die rechtzeitig zur Verfügung stehen, ein neues Performancemanagement und neue Karrieremodelle. Hieran arbeiten wir mit und wir haben in diesen Bereichen mit Gesamtbetriebsvereinbarungen auch wichtige Pflöcke eingeschlagen. Jetzt ist der Arbeitgeber am Zug, dies umzusetzen.

Peter Maier: Als Betriebsrat bewegen wir uns in einem engen Korsett gesetzlicher Regelungen und gerichtlicher Musterentscheidungen. Bis wir zu einem Abschluss kommen, durchlaufen wir lange und komplexe Abstimmungsprozesse. Die Mitbestimmung ist also etwas träge und passt nicht gut in eine agile Arbeitswelt, die ständig in Bewegung ist und zu jeder Zeit auf neue Erkenntnisse reagieren soll. Wir stehen in einem Konflikt: Entweder läuft die Interessenvertretung den Veränderungen hinterher oder sie bremst Agilität aus. Eine ideale Lösung haben wir noch nicht gefunden. Also braucht es momentan viel Vertrauen zwischen den Sozialpartnern.

 

 

Mehr Kommunikation und Erklärungen

Welches Feedback geben Ihnen die Mitarbeitenden?

Peter Maier: Ein sehr unterschiedliches. Gefühlt funktioniert vieles. Aber wir sehen auch viele Ecken, an denen bestehende Regelungen noch nicht greifen, Strukturen noch nicht wie vereinbart umgesetzt sind, Schnittstellen nicht funktionieren und es ein unterschiedliches Verständnis von neuen Mechanismen gibt. Der agile Ansatz hat den hierarchischen noch nicht stabil in den Hintergrund gedrängt. Es gibt noch viele Spannungen und Unsicherheiten.

Christiane Mild: Mein Eindruck ist, dass die Kollegen und Kolleginnen verstanden haben, dass die Transformation notwendig ist, aber ihnen noch nicht hinreichend deutlich ist, was dies für die Einzelne oder den Einzelnen bedeutet. Die konkreten fachlichen und technischen Auswirkungen der strategischen Ausrichtung des Unternehmens auf die eigene Arbeit sind vielen noch nicht greifbar. Hier brauchen wir mehr Kommunikation und Erklärung.

 

 

Hinkt die Unternehmenskultur der Transformation hinterher? 

Peter Maier: Ich sehe das so, aber das ist nicht unbedingt ein hochkritisches Urteil. Ich glaube, in einem so umfassenden Transformationsprozess, wie ihn die Atruvia durchlaufen hat, wird eine Unternehmenskultur immer hinterherhinken. Wichtig ist, dass sie nicht zu sehr hinterhinkt. Zu tun gibt es hier noch Einiges.

Christiane Mild: Noch fehlen die positiven Erfahrungen und Feedbacks. Eine agile Veränderungskultur haben wir eigentlich noch nicht. Dies wird eine Aufgabe für die nächsten Jahre sein.

 

Noch viele offene Genderfragen

Rund drei Viertel der Atruvia-Beschäftigten sind Männer. Welche Rolle haben Genderfragen im Transformationsprozess gespielt?

Christiane Mild: Es ist richtig: Die Atruvia-Welt ist männlich. Ich erlebe aber in einzelnen Projekten auch wirklich starke Frauen, zum Beispiel in der strategischen Personalplanung. Das macht Hoffnung. Genderfragen allerdings waren kein Thema, das in der Betriebsöffentlichkeit und im Zusammenhang mit der Transformation diskutiert wurde. Dabei gibt es für mich noch viele offene Fragen: Wie wirkt sich zum Beispiel Teilzeit oder Elternzeit aus? Dies ist ein Frauenproblem. Wird die Rückkehr von Frauen ausreichend unterstützt? Warum gibt es weniger Frauen, die sich bewerben? Wie sind unsere Auswahlkriterien? Dass wir im Benchmark nicht schlechter als andere IT-Unternehmen dastehen, sollte uns nicht reichen.

Peter Maier: Gendergerechtigkeit und Genderdiversität spielen in unserem Unternehmen schon lange eine Rolle. Seit ich die Entwicklungen als Betriebsrat begleite, hat man diese Themen im Blick und mit Übernahme der Personalverantwortung durch Jörg Staff hat die Betrachtung und Würdigung – auch von Diversität insgesamt – einen enormen Schub bekommen und wird forciert. Ich habe die negativen Seiten genderbezogener Themen erlebt, aber auch immer mehr Positives. Insgesamt ist die Sensibilität für Genderfragen gestiegen. Aber ich gebe Christiane Mild recht: Im Kontext der Umbrüche haben sie keine zentrale Rolle gespielt.

 

Problembewusstsein schärfen

Welche Möglichkeiten bietet ein agiles Umfeld, um diese Themen voranzutreiben?

Peter Maier: Im Kontext der Agilität spielt sicherlich die Aufwertung des Teamgedankens und der teamimmanenten Selbstverwaltung eine wichtige Rolle, weil damit kommunikative Skills an Bedeutung gewinnen. Und – ohne das im Einzelfall bewerten zu wollen – es besteht eine gefühlt mehrheitliche Einschätzung, die Frauen einen Vorteil zum Beispiel in den Bereichen Empathie und Kommunikation zuspricht. Wir müssen unseren Blick aber auch auf die non-binären Gruppen richten, genderspezifische Charakteristika aller Mitarbeitenden genauer betrachten und diese Potenziale für das Unternehmen heben.

Christiane Mild: Agilität als Methode hat nach meiner Beobachtung keine Auswirkungen. Aber eine agile Haltung im Sinne von Veränderungsbereitschaft kann schon neue Chancen öffnen, uns mehr mit den Ursachen und den Handlungsoptionen bei Genderfragen zu befassen. Es mangelt einfach am Problembewusstsein. Meine Vermutung ist, dass eine deutliche Mehrheit insbesondere der männlichen Kollegen gar kein Problem sieht. Ich wäre mir auch nicht sicher, ob die Kolleginnen ein Problem haben. Aber die Haltung „mit Blick auf die übrige Wirtschaft ist das halt so“ reicht nicht, um Veränderungen anzugehen.

 

Minderheitenförderung braucht die Mehrheiten

Die Forschung und die Arbeit im Praxislaboratorium zeigen ja den Handlungsbedarf. Wo können oder wollen Sie andocken?

Christiane Mild:  Ehrlich gesagt, haben auch wir Betriebsräte das Thema noch nicht mit Priorität versehen – trotz der Chancen, die wir für die Mitarbeitenden und das Unternehmen sehen. Uns fehlen dafür schlicht die Kapazitäten. Um es voranzubringen, reicht eine „Befassung nebenher“ nicht aus. Dennoch nehmen wir Einfluss, zum Beispiel indem wir Personalkonzepte, Recruitingverfahren, Talentförderprogramme oder auch den Einsatz von Tools hinterfragen und nicht zuletzt über mitbestimmungspflichtige Sachverhalte wie die Zugangsregeln zu Qualifizierungsprogrammen.

Peter Maier: Wir setzen uns für ein Mindset ein, das Gendergerechtigkeit und Genderdiversität fördert. Deswegen bin ich dankbar, dass wir als Betriebsräte dieses Praxislaboratorium begleiten, Rückschlüsse ziehen und Impulse aufgreifen können für eine Förderung von Minderheiten, die auch Mehrheiten mitnimmt und nicht zu individuellen Ungleichbehandlungen führt. Es gilt, sensibel vorzugehen, immer aber mit dem klaren Ziel, positive Veränderungen zu erreichen und alle Beschäftigten mitzunehmen, zum Beispiel, wenn es darum geht, bestimmte genderspezifische Charakteristika im Unternehmen zu fördern.

 

Genderdiversität auf die Transformationscheckliste

Wie blicken Sie auf das Lab zurück?

Peter Maier: Es hat auf alle Fälle neue Erkennisse gebracht und uns gezeigt, wie betroffen die Mitarbeitenden innerlich, aber auch in ihrem ganz praktischen Arbeitsumfeld sind. Ich könnte mir vorstellen, dass das Lab durchaus ein „Trigger“ ist für positive Veränderungen.

Christiane Mild: Das Lab hat Aufmerksamkeit erzeugt für Genderfragen. Aber jetzt sollten wir noch tiefer bohren, um zu erfahren, wo wir stehen und was die Ursachen dafür sind. Es ist jetzt ein optimaler Zeitpunkt, um Genderdiversität in den Blickpunkt zu rücken. Aber wenn wir hier weiterkommen wollen, müssen wir alle das Thema auf die „Transformationscheckliste“ setzen.



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