Werkstattbericht AUDI AG: Reportage

 

Aufbruch in die Zukunft: Wie Audi-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre Arbeit in der Produktion selbst gestalten

Mit dem Praxislaboratorium „Flexibles Arbeiten in der Schicht“ haben Wissenschaftlerinnen des ISF München gemeinsam mit Beschäftigten und Führungskräften aus der Lackiererei der AUDI AG in Ingolstadt nicht nur das Schichtmodell, das die Arbeit hier bestimmt, auf den Prüfstand gestellt. Sie haben auch erstmals Wege geöffnet für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Frauen und Männer in der getakteten industriellen Produktion. Ein Bericht über ein außergewöhnliches Projekt von Menschen, die die Gestaltung ihrer Arbeitswelt selbstbewusst in die Hand nehmen.

Im Kreativraum der Audi-Lackiererei in Ingolstadt trifft sich das Team des Betrieblichen Praxislaboratoriums „Flexibles Arbeiten in der Schicht“ zum zweiten Synchronisationsmeeting. Es geht an diesem Tag darum, die nächste Sitzung des Lenkungskreises vorzubereiten, in dem Vertreterinnen und Vertreter von Management und Betriebsrat sich über den aktuellen Stand informieren wollen und dem Team wichtiges Feedback für die weitere Arbeit geben. Die drei Arbeitsgruppen des Labs bringen sich gegenseitig auf den aktuellen Stand. Unter der Moderation von Dr. Kira Marrs, Arbeitsforscherin am ISF München und verantwortlich für die wissenschaftliche Begleitung des Laboratoriums, diskutieren sie: Wo stehen wir? Was haben wir geschafft? Was planen wir? Wo brauchen wir Unterstützung? Und auch: Wie kommunizieren wir das alles am besten? Es ist ein strukturiertes und konzentriertes Arbeitstreffen, an dem sich alle nach dem Motto „Es gibt keine schlechten Ideen“ unabhängig vom Platz in der Hierarchie und auf Augenhöhe einbringen.

Erstes Praxislaboratorium im Herzen der Produktion

Seit das Laboratorium im Juli 2019 gestartet ist, verfolgen hier alle das gleiche Ziel. Sie wollen ein Modell entwickeln und auf den Weg bringen, das es möglich macht, in Zukunft auch in Schichtsystemen flexibler zu arbeiten und damit die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu stärken – für sie ein wichtiger Baustein, um „die Arbeitgeberattraktivität der AUDI AG langfristig zu sichern“. So steht es in dem Projektaufruf, mit dem das Team alle rund 2.400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Lackiererei eingeladen hat, sich am Betrieblichen Praxislaboratorium zu beteiligen. Entwickelt haben dieses neue Instrument zur Gestaltung der Arbeitswelt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom ISF München. Seitdem haben sie es in großen Industrieunternehmen wie der Bosch GmbH, aber auch in vielen mittelständischen Betrieben mit Beschäftigten aus den indirekten Unternehmensbereichen erfolgreich erprobt. Das Lab bei Audi ist das erste, das im Herzen der Produktion stattfindet. Es ist Teil des vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) geförderten Forschungsprojekts „#WomenDigit“.

Das Praxislaboratorium ist in den Transformationsprozess „L wie Zukunft“ eingebettet, der 2018 von der Leitung der Lackiererei initiiert wurde, der mit unterschiedlichen Themen und Projekten einen Kulturwandel in diesem Bereich vorantreiben soll und mit klaren Werten hinterlegt ist. Diesen Prozess trägt die gesamte Belegschaft unter dem selbst gewählten Slogan „Wir begeistern, weil wir es wollen“. Auch das Thema „Flexibilisierung der Arbeitszeit“ steht im Zuge dieses Prozesses prominent auf der Agenda.

„Das Schichtsystem aufzubrechen, das hier die Arbeit an der Lackierlinie weitgehend bestimmt, ist eine riesige Herausforderung.”

 

Alle wissen zwar: Das Schichtsystem aufzubrechen, das hier die Arbeit an der Lackierlinie weitgehend bestimmt, ist eine riesige Herausforderung. Gleichwohl wird das Bewusstsein immer größer, dass auch den Mitarbeitenden am Fertigungsband ermöglicht werden muss, ihre Arbeitszeit flexibel zu gestalten. Beschäftigte, Betriebsrat, Führungskräfte und Management sind für das Thema sensibilisiert.

„Ich finde, dass es in der heutigen Zeit jedem zustehen soll, seine Arbeitszeit flexibel zu gestalten“, sagt zum Beispiel eine alleinerziehende Mutter aus der Sachbearbeitung, die in ihrem Bereich in Teilzeit arbeiten kann und sich im Lab engagiert. Es ist ein hartes Brett, das man hierfür bohren muss. Wer die Diskussion im Synchronisationsmeeting verfolgt, bekommt eine Vorstellung von den immer wieder neuen komplexen Fragestellungen, mit denen das Lab-Team konfrontiert wird, aber auch von dem Know-how, das die meisten hier entweder bereits mitbringen, sich inzwischen angeeignet haben oder von Expertinnen und Experten einholen, um die passenden Antworten zu finden.

Komplizierte Ausgangslage

Denn die Ausgangslage ist kompliziert. Die Arbeit in der Audi-Lackiererei ist organisiert in einem Dreischichtsystem aus Früh-, Spät- und Nachtschicht. Im Schnitt arbeiten acht Beschäftigte in einer festen Gruppe an der Linie zusammen. Sie rotieren zwischen verschiedenen Stationen, für die sie speziell qualifiziert sind. Wenn jemand aus der Gruppe ausfällt, muss er oder sie ersetzt werden – im Idealfall durch Kollegen oder Kolleginnen mit der gleichen Qualifikation. Sonst steht die Lackierlinie still. Aus diesem System im Rahmen eines „normalen“ Teilzeitmodells für einen halben Tag oder gar stundenweise auszusteigen – wie es in vielen indirekten Bereichen von Unternehmen, zum Beispiel der Verwaltung oder Entwicklung, möglich ist – funktioniert hier nicht.

„Es sind Arbeitszeiten, die das Privatleben einschränken können, weiß ein Team-Mitglied aus der Produktion aus eigener Erfahrung.”

 

Es sind Arbeitszeiten, die das Privatleben einschränken können, weiß ein Team-Mitglied aus der Produktion aus eigener Erfahrung. Wer heute in der Audi-Lackiererei Stunden reduzieren möchte, kann dies tun, indem er entweder nur jede zweite Woche oder zum Beispiel nur drei volle Arbeitstage in der Woche arbeitet. Halbe Schichten zu arbeiten war bislang nicht möglich. Gleichzeitig besteht ein Rechtsanspruch darauf, Teilzeit zu arbeiten, und auch der Leidensdruck wächst – vor allem bei den Beschäftigten mit Familienverantwortung. Arbeiten beide Elternteile im Schichtsystem, ist dies im Moment in der Regel nur im so genannten Gegenschicht-Modell möglich, das heißt, beide arbeiten abwechselnd in Früh- und Spätschicht oder ein Partner in Dauernachtschicht.

Jede und jeder soll flexibel arbeiten können

Diese Situation vor Augen, hat sich das Lab-Team im Rahmen des Kick-offs im Juli 2019 auf die Fahnen geschrieben, dass jeder und jede in Zukunft flexibel arbeiten kann und – ganz entscheidend – dass Mitarbeitende, die in Teilzeit arbeiten, keine Nachteile haben. Will man ein solches Ziel in einem großen Industrieunternehmen wie Audi umsetzen, stellen sich vielfältige Fragen und Probleme – nicht nur organisatorische, sondern auch arbeits- und tarifrechtliche, personalpolitische oder auch abrechnungs- und revisionstechnische. Um all dies gezielt und systematisch bearbeiten zu können, hat das Lab-Team zunächst die drei wichtigsten Handlungsfelder definiert und für jedes Feld eine Arbeitsgruppe gebildet, die selbstorganisiert und im ständigen Austausch arbeitet: Arbeitsgruppe eins ermittelt auf der Basis einer repräsentativen Befragung zu den Arbeitszeitwünschen von Beschäftigten und Führungskräften die Bedarfe. Arbeitsgruppe zwei entwickelt und erprobt in einem Piloten ein neues, offenes Schichtmodell und Arbeitsgruppe drei analysiert, wie die rechtlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen angepasst werden müssen, um dieses Modell umzusetzen.

„Was selbst professionelle Changemanager vor riesige Herausforderungen stellt, haben die 15 Mitglieder des Lab-Teams auf die Schiene gebracht.”

 

Was selbst professionelle Changemanager vor riesige Herausforderungen stellt, haben die 15 Mitglieder des Lab-Teams von der Fahrzeuglackiererin über die Fertigungskraft und Industriemechanikerin bis hin zum Gruppenleiter aus der Produktion, zur Sachbearbeiterin und zum Betriebsrat mit ihrer kontinuierlichen und systematischen Gestaltungsarbeit auf die Schiene gebracht und sich hierfür neben ihren eigentlichen Arbeitsaufgaben mit viel Dynamik engagiert. Drei achtwöchige Sprints, in denen agil gearbeitet wird, sieht das Konzept des Praxislaboratoriums vor. Nach jedem Sprint stehen ein Treffen mit dem Lenkungskreis, ein Planungstreffen für den nächsten Zyklus und ein Synchronisationsmeeting auf dem Programm. Strukturiert und begleitet wird der gesamte Prozess vom #WomenDigit-Forschungsteam.

Von Sprint zu Sprint ins Ziel

Man kann beinahe zusehen, wie von Sprint zu Sprint die Lösungen und Konzepte weiter Form annehmen. „Es ist mittlerweile eine Eigendynamik in dem Projekt entstanden, wo jedes Teammitglied das andere mitnimmt und auch motiviert, in verzwickten Situationen weiterzumachen“, erzählt ein Gruppenleiter aus dem Bereich PVC, einem Teilgebiet des Korrosionsschutzes. Mittlerweile haben die drei Arbeitsgruppen eine weitgehend funktionsfähige Gesamtlösung auf die Beine gestellt.

„Man kann beinahe zusehen, wie von Sprint zu Sprint die Lösungen und Konzepte weiter Form annehmen.”

 

Die Ergebnisse der Beschäftigtenumfrage, an der sich 900 der rund 2.400 Beschäftigten beteiligt haben, liegen vor und unterstreichen, dass der Handlungsbedarf immer größer wird. Vor allem die Jüngeren in der Belegschaft sind interessiert daran, nach einem flexibleren Zeitmodell zu arbeiten. Bereits seit Oktober 2019 wird im Bereich Decklack das im Lab entwickelte neue Schichtmodell mit zwei Mitarbeiterinnen erprobt, die nach der Elternzeit ihre Arbeitszeit reduzieren wollen. Der Lösungsansatz: Beschäftigte aus nichttaktgebundenen Bereichen füllen den nichtbesetzten Zeitraum an den taktgebundenen Arbeitsplätzen auf. Beide Seiten zeigen sich mit der Lösung sehr zufrieden.

Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen können viel schaffen

Ein weiterer Pilotversuch im Bereich PVC ist gerade in Vorbereitung. Um das neue Modell in der Praxis breit einsetzen zu können, hat das Team nicht nur die Schritte und Schnittstellen im Beantragungsprozess für Teilzeit identifiziert, sondern auch die Stellschrauben definiert, die man bewegen muss, um die jetzigen Personalmanagement-Instrumente an die neuen Anforderungen anzupassen – zum Beispiel mit Blick auf das geplante Springer-System.

Neun Monate nach dem Kick-off zeigt sich: Flexibles Arbeiten funktioniert auch in einem getakteten Schichtsystem und das Betriebliche Praxislaboratorium bewährt sich als strategisches Gestaltungstool auch in der Welt der Produktion. Fragt man im Lab-Team nach dem Erfolgsrezept, so bringt eine Teilnehmerin es so auf den Punkt. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter könnten sehr viel schaffen, wenn sie zusammenarbeiteten, „egal aus welcher Abteilung, mit welchem Abschluss und mit welcher Ausbildung“.  Auch die übrigen Beteiligten ziehen eine positive Bilanz. Beim Thema „Flexible Schichtarbeit“ haben sie dank des Labs einen ersten entscheidenden Meilenstein erreicht. Jetzt geht es darum, die hier entstandene Dynamik zu nutzen, das Modell in andere Bereiche auszurollen und die Lernerfahrungen aus der Lab-Zeit für die eigene Weiterentwicklung zu nutzen.