Werkstattbericht AUDI AG: Interview

 

Viel gelernt, stolz und weiter hoch motiviert: Ingo Winkler und Marika Paulus im Gespräch

Sie haben das Praxislaboratorium mit viel Engagement und Herzblut vorangetrieben: Ingo Winkler, Pate des Projekts, und Labteam-Leiterin Marika Paulus ziehen im Interview mit Jutta Witte Bilanz. Sie berichten über ihre Motivation, über die Herausforderungen und über ihre Erfahrungen mit einer völlig neuen Form der gemeinsamen Gestaltung im Betrieb, die für sie einen entscheidenden Meilenstein markiert auf dem Weg in eine flexiblere industrielle Arbeitswelt.

Die Beschäftigtenumfrage: Was wünschen sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für ihre persönliche Arbeitszeit? © ISF München

Jutta Witte: Herr Winkler, Frau Paulus, Sie sind mit dem Praxislaboratorium „Flexibler Einsatz in der Schicht“ in ein echtes Experiment gestartet. Was hat sie dazu motiviert?

Marika Paulus: Mich hat vor allem motiviert, dass wir mit dem Lab die Möglichkeit zur Mitgestaltung über einzelne Hierarchiestufen hinweg bekamen. Ich weiß aus persönlicher Erfahrung, wie es ist, direkt an der Produktionslinie zu arbeiten. Man hat auch als Facharbeiterin oder Facharbeiter Ideen, macht sich Gedanken oder empfindet Dinge ganz anders. Mir ist es wichtig, dass diese Beschäftigten Gehör finden. Und das bildet das Praxislaboratorium perfekt ab. Jeder, der sich beteiligen wollte, kann jetzt nachhaltig seine Meinung mit einbringen.

Ingo Winkler: Meine Frau und ich kennen die Probleme gut, wenn man Kinderbetreuung und Schichtarbeit unter einen Hut bringen muss. Ich sehe schon lange Handlungsbedarf beim Thema Arbeitszeiten. Außerdem war ich neugierig, ob agiles Arbeiten, wie wir es ja im Lab praktizieren und das ich bislang nur aus der Softwareentwicklung kannte, auch bei der Gestaltung der Arbeitswelt funktioniert. Und was mich wirklich sehr motiviert hat, war die Zusammenarbeit mit jungen Leuten, die ganz andere Vorstellungen von Arbeit und Leben haben als meine Generation.

Ein Thema, das auf den Nägeln brennt

Sie haben sich ein ziemlich komplexes Thema ausgesucht. Schichtsysteme in der industriellen Produktion aufzubrechen ist ein ehrgeiziges Ziel.

Marika Paulus: Das stimmt. Aber es ist ein Thema, das auf der Hand liegt. Es gibt hier immer mehr Beschäftigte, die andere Arbeitszeiten wirklich benötigen und gleichzeitig genug Geld verdienen müssen. Wir arbeiten hier in einem System aus Spätschicht und Frühschicht und einer Dauernachtschicht. Eltern müssen entweder in Gegenschicht, also praktisch abwechselnd, arbeiten oder ein Elternteil immer in Nachtschicht. Organisatorisch ist es nicht möglich, einzelne Arbeitsplätze einen halben Tag unbesetzt zu lassen. Bislang gibt es nur wenige Einzelfälle, die in der Lackiererei flexibel arbeiten. Diese Beschäftigten haben entweder klassische Aufgaben im Büro oder waren bis jetzt in nicht taktgebundenen Bereichen der Produktion eingesetzt.

Ingo Winkler: Und das Praxislaboratorium hat uns jetzt die Chance gegeben, das Thema grundlegend anzugehen – mit Beschäftigten, die direkt in der Produktion eingesetzt sind. Das war für mich ein entscheidender Punkt. Mein Anspruch ist, das Problem direkt in der Lackierlinie zu lösen.

„Mein Anspruch ist, das Problem direkt in der Lackierlinie zu lösen.“

Ingo Winkler

 

Warum ist das so wichtig?

Ingo Winkler: Wir müssen schauen, dass das Ganze wirtschaftlich bleibt. Audi ist ein Unternehmen, baut und verkauft Autos, muss Gewinn erzielen, reinvestieren und am Markt bestehen. Wenn wir den Menschen also flexible Arbeitszeiten ermöglichen – und ich bin davon überzeugt, dass wir das tun müssen – dann geht das nur, wenn wir sie dabei in der Wertschöpfungskette halten, an deren Ende das Produkt Auto steht.

Marika Paulus: Wir brauchen einfach eine nachhaltige Lösung, die theoretisch alle nutzen können – egal aus welchen Gründen – und die dafür sorgt, dass sich die Menschen mit ihrem Know-how weiter an ihrem Arbeitsplatz einbringen können. Und was auch nicht zu vernachlässigen ist: Man kennt seine Arbeitsgruppe vielleicht jahrelang, ist aufeinander eingespielt und vertraut sich – so ein soziales Gefüge sollten wir möglichst aufrechterhalten.

Mit dem Projekt gewachsen

Sie beide haben gemeinsam mit dem Lab-Team einen weiten Weg zurückgelegt. Wie beobachten Sie die Entwicklung der Beteiligten?

Ingo Winkler: Einige haben mich schon vom ersten Tag an positiv überrascht. Sie waren unglaublich motiviert und haben dann eine unglaubliche Dynamik entwickelt. Da sind Leute dabei, die mit dem Projekt auch wirklich gewachsen sind, die das Projekt vielleicht auch geformt hat – tolle Persönlichkeiten, mit denen man vieles zum Laufen bringen könnte.

Marika Paulus: Es ist uns allen im Laufe des Labs immer besser gelungen, uns gegenseitig zu unterstützen, und wir konnten immer mehr voneinander lernen. Das hat mir gezeigt: Ein solches Projekt kann nur funktionieren, wenn es auf breiten Schultern liegt.

„Ein solches Projekt kann nur funktionieren, wenn es auf breiten Schultern liegt.“

Marika Paulus

 

Was nehmen Sie für sich persönlich mit aus der Arbeit im Praxislaboratorium?

Marika Paulus: Ich habe viel gelernt über die Zusammenarbeit mit verschiedenen Gruppen und Charakteren. Ich weiß jetzt, wie wichtig es ist, neue Kompetenzen und Potenziale der Kolleginnen und Kollegen zu erkennen. Im normalen Arbeitsalltag sieht man das oft nicht. Und ich habe viel mitgenommen für neue Formen des Projektmanagements – zu erkennen, in welchen Schritten man das Team wo unterstützt, und dass es Phasen gibt, in denen es von allein läuft.

Ingo Winkler: Ich habe vor allem schnell gemerkt, dass meine Rolle als Führungskraft sich verändert. Ich bin nicht mehr derjenige, der steuern muss, sondern ich muss gewisse Leitplanken schaffen, unterstützen und Entscheidungen herbeiführen. Denn das Team hat sich alles selbst erarbeitet.

Erster Step auf dem Weg zur Gesamtlösung

Also hat sich der Einsatz gelohnt?

Ingo Winkler: Auf alle Fälle. Mein Herzenswunsch ist in Erfüllung gegangen, Mitarbeitern die Möglichkeit zu geben, Teilzeit zu arbeiten, in der Schicht, in der Produktion und direkt am Produkt.

Marika Paulus: Auch wenn man mit Einzelnen aus dem Lab-Team spricht, merkt man: Die wollen sich weiter engagieren. Die Power ist immer noch da. Deswegen dürfen wir jetzt nicht einfach mit einem festen Cut aufhören, sondern müssen weiter dranbleiben, unser Thema noch weiter verankern. Das Ende des Labs ist für mich ein weiterer Step auf dem Weg zu einer Gesamtlösung.

Einer Lösung, die wegweisend ist vor allem für Frauen?

Marika Paulus: Sie hilft Frauen weiter, aber nicht nur ihnen. Das Projekt unterscheidet nicht, es verbindet eher. Aber es zeigt mir, dass man Frauen durchaus mehr Mut zusprechen sollte, sich einzubringen mit ihren Ideen, vielleicht anderen Sichtweisen und Erfahrungen – auch in der Industrie und auch jenseits von Leitungsfunktionen.

Ingo Winkler: Ich glaube auch: Für die Zukunft müssen wir einen weiteren Bogen spannen. Natürlich sind im Moment hier vor Ort vor allem Frauen betroffen. Aber Teilzeit zu arbeiten ist kein reines Frauenthema. Davon müssen wir uns lösen. Auch Männer übernehmen immer mehr Erziehungsaufgaben. Wir dürfen auch das Thema Pflege nicht vernachlässigen. Da sind auch ältere Beschäftigte gefordert. Und ich stimme Marika völlig zu. Das, was wir jetzt mit dem Lab sozusagen im Testbetrieb erreicht haben, kann nur ein Zwischenschritt sein.


Ingo Winkler leitet in der Lackiererei der AUDI AG in Ingolstadt den Bereich Korrosionsschutz und ist dort für 620 Beschäftigte verantwortlich. Im Unternehmen ist der 53-Jährige 1998 als Facharbeiter an der Fertigungslinie gestartet und hat seitdem in der Lackiererei viele Karrierestationen durchlaufen, die ihn schließlich in die obere Leitungsebene geführt haben.

Marika Paulus ist in der Lackiererei der AUDI AG in Ingolstadt zuständig für das Umweltmanagement. Nach ihrer Ausbildung als Lackiererin bei Audi hat die 28-Jährige Abitur gemacht, Wirtschaftsingenieurwesen, Agrarmanagement und Marketing studiert und ist dann wieder bei Audi eingestiegen – zunächst an ihrem ursprünglichen Arbeitsplatz in der Produktion. In ihrer jetzigen Funktion ist sie seit 2018 tätig.