Werkstattbericht Atruvia AG: Interview

 

Jetzt die Weichen stellen: Genderdiversität als zentraler Baustein einer agilen Mitmachorganisation

Anja Bultemeier und Kira Marrs erforschen seit mehr als zehn Jahren die Folgen des digitalen Umbruchs für die Geschlechterverhältnisse. Im Projekt #WomenDigit richten sie ihren Fokus jetzt auf die Transformation der Atruvia AG zur agilen Mitmachorganisation und auf die Chancen, die dieser Umbruch für mehr Genderdiversität bietet. Ein Gespräch über die neuen Möglichkeitsräume, die sich – gepusht auch durch die Corona-Pandemie – in diesem Unternehmen für Frauen auftun, welche Hindernisse es zu überwinden gilt und wie die Gestaltung gelingen kann.

 

 

Interview mit Anja Bultemeier, Wissenschaftlerin an der FAU Erlangen-Nürnberg, und Dr. Kira Marrs, Wissenschaftlerin am ISF München

Frau Bultemeier, Frau Dr. Marrs, Sie sind gerade ins nächste Betriebliche Praxislaboratorium gestartet – diesmal in der Finanzdienstleistungsbranche. Was macht die Atruvia AG so spannend für Sie?

Kira Marrs: Dieses Unternehmen hat eine beispiellose Transformation hinter sich. Dort ist in den letzten Jahren kein Stein auf dem anderen geblieben. Man hat hier praktisch die Reißleine gezogen, um sich im digitalisierten, zunehmend über Plattformen organisierten Finanzmarkt mit aufstrebenden FinTechs für die Zukunft neu aufzustellen. Es musste der ganz große Wurf werden. Inzwischen ist aus dem ehemaligen Rechenzentrum Fiducia & GAD IT AG der IT-Dienstleister und Business-Enabler Atruvia AG geworden, der seine alten Strukturen über Bord geworfen, sich konsequent agil aufgestellt hat und auf dem besten Weg ist, eine moderne Mitmachorganisation zu werden.

Wie würden Sie diese Mitmachorganisation beschreiben?

Anja Bultemeier: Es ist eine Organisation, in der es keine Silos mehr gibt, in der Menschen ihr Wissen teilen, kollaborativ zusammenarbeiten und gemeinsam lernen – vom Vorstand und den Führungskräften über die Fachkräfte in der IT oder Entwicklungsabteilung bis hin zu den Auszubildenden und den Mitarbeitenden im Büro. Das funktioniert natürlich nur unter bestimmten Bedingungen. Die Beschäftigten brauchen auch in einem solchen agilen Setting einen Rahmen, der ihnen Sicherheit gibt. Deswegen kann es eine agile Mitmachorganisation nur mit Beteiligung, Empowerment und Beziehungen auf Augenhöhe geben.

 

Welche Forschungsfragen wollen Sie mit Blick auf diesen Umbruch beantworten?

Kira Marrs: Zugespitzt formuliert geht es um die Frage: Bedeutet eine disruptive Modernisierung des Unternehmens, dass auch die Geschlechterverhältnisse sich disruptiv modernisieren?

Anja Bultemeier: Genau. Wir wollen wissen, wie eine so grundlegende Transformation die Entwicklungs- und Karrierechancen von Frauen verändert, und vor allem, an welchen Stellschrauben wir drehen müssen, um in einem agilen Setting wie bei der Atruvia AG Genderdiversität und Chancengleichheit zu verwirklichen.

 

An Agilität werden hohe Erwartungen geknüpft, wenn es darum geht, eine moderne Arbeitswelt im Sinne der Menschen zu verwirklichen. Welche Chancen bietet Agilität für Frauen, ihre Karriere und Genderdiversität?

Kira Marrs: Dieses Organisationsmodell hat das Potenzial, Gendergerechtigkeit auf lange Sicht zum Durchbruch zu verhelfen und damit eines der hartnäckigsten Ungleichheitsverhältnisse in einem Unternehmen aufzubrechen.

Anja Bultemeier: Nach unserer Analyse der Situation bei Atruvia sehen wir einen neuen Möglichkeitsraum, der sich in einer agilen Organisation öffnet und den wir jetzt gemeinsam mit den drei Labteams erkunden wollen. So bietet Agilität die Chance, individuelle Leistungen transparent zu machen und damit natürlich auch die Sichtbarkeit von Frauen und ihren Talenten im Unternehmen zu erhöhen. Viele Frauen haben uns berichtet, dass sie noch nie so viel Anerkennung und Wertschätzung erfahren haben wie im agilen Team. Agilität öffnet aber auch neue Karrierewege und neue Pfade in Richtung Führungsaufgaben.

 

Worauf führen Sie das zurück?

Kira Marrs: Weibliche Stärken – Empathie, die Fähigkeit, im Team zu agieren oder Menschen zu ermutigen – passen sehr gut zu den Prinzipien einer agilen Zusammenarbeit. In einer agilen Organisation spielt aber auch Individualität eine große Rolle. Es wird offengelegt, wer konkret was erarbeitet und geleistet hat, aber auch wo Probleme auftauchen. In einem solchen Umfeld werden auch diejenigen gehört, die leise auftreten. Das Beispiel Atruvia zeigt auch, dass ein professionelles Personalmanagement mit verbindlichen Diversitätsstandards Frauen zugute kommt. Welchen (Karriere-)Weg jemand im Unternehmen einschlagen kann oder welche Rolle er oder sie ausfüllt, hängt dann nicht länger von den Vorlieben individueller Führungskräfte ab.

Anja Bultemeier: Hinzu kommt: Neue agile Rollen, wie die Atruvia AG sie jetzt eingeführt hat, zum Beispiel Squad Owner oder Chapter Guides – ebenso wie die Möglichkeit, interdisziplinäre Teams auch fachfremd zu führen –, öffnen neue, unkonventionelle Wege in Richtung Führung. Die Botschaft ist: Führung ist keine angeborene Eigenschaft einiger besonders begnadeter Menschen, sondern Führung kann man lernen.

Kira Marrs: Sie sehen: Wir trauen Agilität einiges zu.

 

Und wo liegen die Fallstricke?

Kira Marrs: Wir haben natürlich auch die Hindernisse analysiert, die Frauen selbst in einem modernen, agilen Unternehmen wie der Atruvia AG noch immer im Weg stehen. Ganz klar. Teilzeit und Elternzeit sind immer noch echte Karrierekiller. Es fehlen zum Beispiel geregelte Verfahren für die Rückkehr in den Beruf oder die Aufstockung einer Stelle. Da entstehen Karrierebrüche, die man meistens nicht mehr kitten kann. Dahinter liegt ein grundlegendes strukturelles Problem, das man beheben muss.

Anja Bultemeier: Besonders stark wirkt sich das aus, wenn eine Frau in Führungsverantwortung ist. Führen in Teilzeit zum Beispiel ist immer noch eine Seltenheit. Die Norm ist Vollzeit. Stellen- und Verantwortungsprofile müssten also dringend überarbeitet werden.

 

Haben sich solche Probleme nicht mit der Corona-Pandemie, die eine völlig neue Remotekultur hervorgebracht hat, ein Stück weit erledigt?

Kira Marrs: Sie haben Recht. Mit der Pandemie hat sich die digitale Transformation der Arbeitswelt im Zeitraffer vollzogen. Praktisch über Nacht wurden völlig neue Formen der Zusammenarbeit möglich – und das hat erstaunlich gut funktioniert. Ich würde also schon sagen, dass Corona ein Booster war, zum Beispiel um alte Präsenzkulturen aufzubrechen, mehr Flexibilität und mehr individuelle Zeitsouveränität zu ermöglichen. Jetzt fragen wir uns: Wie können diese Erfahrungen nachhaltig integriert werden? Der Umbruch zur agilen Mitmachorganisation markiert sicher eine Wende. Aber wir wissen auch, dass die weitere Entwicklung kein Selbstläufer ist, sondern viel Gestaltungsarbeit erfordert. Ohne das werden sich die Chancen für die große Mehrzahl der Frauen nicht erhöhen.

 

Worauf kommt es jetzt an?

Anja Bultemeier: Das Unternehmen muss jetzt nicht nur Konzepte entwickeln, die den analogen und digitalen Raum zusammendenken und die dafür sorgen, dass das „neue Normal“ auf Empowerment aufbaut und nicht auf einer neuen Unkultur permanenter Verfügbarkeit. Arbeit im Homeoffice birgt ja durchaus auch die Gefahr, sich selbst auszubeuten. Entscheidend ist jetzt, ob es gelingt, den Push, den die Pandemie dem Transformationsprozess gegeben hat, zu nutzen, um die Arbeitswelt gendergerecht zu gestalten und die Weichen für mehr Genderdiversität zu stellen.

Kira Marrs: Eigentlich braucht es eine völlig neue Perspektive. Diversität und damit die Offenheit des Unternehmens für alle Mitarbeitenden und ihre unterschiedlichen Perspektiven sollte zum strategischen Ankerpunkt für den Neuerfindungsprozess werden und ein zentraler Baustein in der agilen Mitmachorganisation.


Fakten, Themen, Leute

In Vorbereitung des Betrieblichen Praxislaboratoriums haben die beiden Wissenschaftlerinnen zwischen Mai und Oktober 2021 90-minütige qualitative sowie rollen- und bereichsübergreifende Interviews mit 19 Beschäftigten der Atruvia AG geführt, um den neuen Möglichkeitsraum für Frauen zu vermessen, der sich durch die agile Transformation und die Erfahrungen während der Corona-Pandemie geöffnet hat. Am Lab beteiligen sich 14 Beschäftigte, die an den Standorten Karlsruhe, Münster und München arbeiten und unterschiedliche Service- und Geschäftsfelder repräsentieren. In drei Labteams widmen sie sich den Themen „Frauen als Vorreiterinnen von Agilität“, „Agilität schafft neue Sichtbarkeit für Talente & Leistung“ und „Hybrid als ‚New Normal‘“.


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