Werkstattbericht Atruvia AG: Gestaltungsarbeit

 

Agilität ist nur der Anfang:
Einen neuen Möglichkeitsraum erschließen

Ihre Überzeugung: Ein agiles Setting bietet Frauen eine Menge Chancen, wenn es richtig gestaltet ist. Ihr Ziel: diese Chancen nutzen, um im Unternehmen nachhaltige Veränderungen zu schaffen. Im April 2022 haben sich Mitarbeitende der Atruvia AG zu einem Betrieblichen Praxislaboratorium zusammengefunden, um Arbeitspraxis und Mindset in einer Organisation weiterzuentwickeln, die mit ihrer Transformation zum agilen Unternehmen und der Corona-Pandemie gleich zwei Umbruchprozesse hinter sich, aber mit Blick auf Genderdiversität noch viel zu tun hat.

Invest in eine menschengerechte Arbeitswelt

Ein Betriebliches Praxislaboratorium ist kein Selbstläufer, sondern ein offener Experimentierraum, der einiges an Eigeninitiative, Engagement, Flexibilität und Durchhaltevermögen verlangt. „Die Menschen, die sich hier einbringen, tätigen im Grunde ein Investment, das einzahlt auf eine menschengerechte Gestaltung ihrer Arbeitswelt“, sagt Kira Marrs, Wissenschaftlerin am ISF München. Im Lab „Agile Organisation als Chance für Frauen“ haben sich dreizehn Frauen und ein Mann dieser Herausforderung gestellt. Ins Lab sind sie mit unterschiedlichen Erwartungen, Haltungen und Wissen gegangen. Bewusst war dabei allen: Die Transformation ihres Unternehmens zu einer konsequent agilen Organisation bietet eine einzigartige Gelegenheit, um das Thema Genderdiversität auf die Agenda zu heben und mitzugestalten.

 

Einige offene Baustellen

Die empirische Forschung im Projekt #WomenDigit, aber auch die Beobachtungen und Erfahrungen der beteiligten Beschäftigten zeigen, dass selbst eine flächendeckende Einführung agiler Arbeitsstrukturen und Rollen nicht automatisch zu mehr Genderdiversität führt und auch bei Atruvia noch einige Baustellen offen sind. Wer die Diskussionen im Lab verfolgt, bekommt einen Eindruck davon, wie Agilität von vielen – teils aus langer Überzeugung – bereits gelebt wird, aber auch auf welche Hindernisse insbesondere Frauen in vielen Bereichen stoßen, in denen die Transformation noch nicht angekommen ist. „Viele hier setzen immer noch auf Hierarchien, teilen ungern Kompetenzen und fürchten sich davor, Macht abzugeben“, sagt zum Beispiel Scrum Master Simone Kohler. „Das macht es kompliziert und das ist auch der Grund, warum viele Kolleginnen und Kollegen ihre agilen Rollen noch nicht ausfüllen können.“

 

Impulse für wirkliche Veränderungen

Im Kick-off diskutieren sie offen über die Chancen, die Agilität für Frauen und ihre Karriere bietet. Sie sprechen auch über die Störfelder, die Frauen und ihrer beruflichen Entwicklung entgegenstehen, und sie lassen die Erfahrungen aus der Corona-Pandemie Revue passieren, als nahezu das gesamte Unternehmen praktisch über Nacht ins Homeoffice zog. Klar ist am Ende eines intensiven Brainstormings nicht nur, dass das Thema Genderdiversität im Unternehmen trotz allen Willens zum Umbruch bislang „ziemlich stiefmütterlich“ behandelt wird und dass es nicht nur einer Schärfung des Mindsets bedarf, sondern auch Maßnahmen, die strukturell greifen. Das Labteam ist aber auch überzeugt, dass es sich lohnt, nach vorne zu blicken, und identifiziert schließlich die Handlungsfelder, an denen es konkret einhaken und Impulse geben will für „wirkliche“ Veränderungen.

 

Agilität gut leben

Drei Subteams gehen jetzt, begleitet vom Forschungsteam und einem Lenkungskreis aus Management und Betriebsrat, mit unterschiedlichen Schwerpunkten in die Gestaltungsarbeit. Das Team „Frauen als Vorreiterinnen von Agilität“ dockt an die These der Wissenschaftlerinnen an, dass Frauen angesichts der sich verändernden Skills in der agilen Arbeitswelt zwar prädestiniert scheinen für agile Rollen, zum einen aber ihre Potenziale bei Atruvia bislang nur unzureichend ausgeschöpft werden und zum anderen die Jobvergabe noch immer genderspezifischen Klischees folgt. Vor diesem Hintergrund möchte das vierköpfige Team möglichst viele Frauen für diese Rollen gewinnen und Rahmenbedingungen schaffen, in denen man Agilität – auch in Teilzeit – gut leben kann.

 

Hybrid als New Normal

Die Gruppe „Hybrid als New Normal“ nimmt den „Gamechanger Corona“ zum Ausgangspunkt. Die Akteurinnen beobachten, dass der durch die Pandemie erzwungene Wechsel ins Homeoffice und in die Remote-Arbeit bei Atruvia erstaunlich schnell und erstaunlich gut funktioniert hat. Zwar haben sich die Aufrechterhaltung von Netzwerken und neue Verfügbarkeitserwartungen zum Teil als problematisch erwiesen. Gerade aber mit Blick auf die Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf, oder auf die Situation von Teilzeitarbeitenden, liegen die Vorteile für die sechs Frauen, die in diesem Team mitarbeiten, auf der Hand. Sie wollen deswegen die positiven Erfahrungen aus der Pandemie nutzen, die Rückkehr in alte Präsenzstrukturen verhindern und dafür sorgen, dass hybrides Arbeiten sich nachhaltig etabliert.

 

Die Leiseren ermutigen

Das dritte Team „Neue Sichtbarkeit für Talente & Leistung“ schließlich verfolgt die Hypothese, dass traditionelle Arbeitsformen eher fachliche Kompetenzen in den Vordergrund stellen, während in der agilen Welt (neue) soziale Kompetenzen an Bedeutung gewinnen. Im Mittelpunkt steht für die drei Frauen, die vom einzigen Mann im Lab unterstützt werden, Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen Frauen sich mit ihren Talenten und Leistungen besser entfalten können. Insgesamt verfolgen sie die Mission, dass auch die „Leiseren“ mehr Wertschätzung erfahren. Und sie wollen sie ermutigen, den Schritt „in die erste Reihe“ zu wagen.

 

Kontroverse Diskussionen

Die Ziele sind ehrgeizig, der Zeitplan eng getaktet. Herausfordernd ist dieses Praxislaboratorium aber auch aus anderen Gründen. Immer wieder stoßen die Labteams in ihren Synchronisationstreffen und in den Feedbackrunden mit dem Lenkungskreis auf eine grundsätzliche Frage: „Was ist der richtige Weg, um im Unternehmen möglichst viele Menschen zu erreichen und mitzunehmen?“ Kontrovers wird unter anderem diskutiert, ob die Fokussierung auf das Genderthema noch zeitgemäß ist oder ob es vielleicht sinnvoller wäre, mehr in Richtung Diversität zu denken. Überspannt man vielleicht den Bogen, wenn man „nur“ Frauen adressiert? Weckt zum Beispiel ein Frauennetzwerk Ressentiments im Unternehmen? Warum bringen Frauen andere Fähigkeiten mit ins Unternehmen als Männer? Gibt es überhaupt geschlechtsspezifische Skills? Am Ende wählt man „die goldene Mitte“: Das, was in diesem Lab entwickelt werden soll, zielt in erster Linie auf Frauen. Das, was am Ende erreicht wird, öffnet allen Menschen bei Atruvia neue Chancen. Carolin John, Scrum Master im Facility Management, formuliert das so: „Ich würde das Frauenthema nicht aufweichen wollen. Aber natürlich: Männer sind immer mitgemeint – so wie früher Frauen immer mitgemeint waren.“

 

Inspirierender Event für Frauen und ihre Allies

Aus einer Vielzahl von Lösungsansätzen, die von Sprint zu Sprint weiterentwickelt und diskutiert werden, kristallisiert sich am Ende für die Lab-Gruppe „Frauen als Vorreiterinnen von Agilität“ eine zentrale Idee heraus. Sie will auf ein Netzwerk hinarbeiten, in dem Frauen sich mit ihren „Allies“ zu Agilität und Genderdiversität austauschen und gegenseitig bestärken können. „Wir brauchen Anlässe, um über diese Themen im Gespräch zu bleiben, und wir brauchen möglichst viele Köpfe, die für diese Themen stehen“, betont Nicole Stetter, Agile Coach im Servicefeld Culture, Talents and Learning. Deswegen organisieren sie und ihre drei Mitstreiterinnen zwei „inspirierende“ interaktive Veranstaltungen an den Standorten Karlsruhe und Münster, bei denen sie nicht nur die Arbeit im Lab Revue passieren lassen und die Ergebnisse in den Kontext einordnen wollen. Von diesen Events soll auch eine Initialzündung ausgehen, um Genderdiversität im Mindset des Unternehmens nachhaltig zu verankern – eine Gelegenheit für alle, die sich für dieses Thema interessieren und sich engagieren wollen, um auf Augenhöhe ihr Wissen auszutauschen, neue Ideen zu kreieren, sich zu vernetzen und vielleicht auch gemeinsame Projekte anzustoßen.

 

Performance Management weiterentwickeln

Bei der geplanten Veranstaltung „Atruvia meets WomenDigit“ sind auch die beiden anderen Sub-Teams mit eigenen Sessions dabei. Auch sie wollen ihre Ergebnisse zur Diskussion stellen und die Lösungen, die sie entwickelt haben, nachhaltig im Unternehmen verankern. „Denn das Praxislaboratorium war erst der Anfang“, betont Marina Maier, Nachhaltigkeitsexpertin im Servicefeld Employee Experience. Ihre Gruppe „Neue Sichtbarkeit für Talente & Leistung“ hat aus Interviews mit People Leads die (neuen) Leistungskriterien abgeleitet, die im agilen Kontext vor allem zählen, und hat analysiert, was diese Entwicklung für die Leistungsbewertung und Förderung von Talenten bedeutet. Die Ergebnisse sollen nun einfließen in die Weiterentwicklung des Performance Managements sowie, wenn möglich, auch in die Diversity- und Recruiting-Planung. Und das Team will Erfolgsgeschichten erzählen – von Frauen, die Mut machen können, weil sie es geschafft haben, in der agilen Welt ihren Weg zu gehen. Die erste dieser „Stories“ steht auf dem Abschlussevent auf der Agenda.

 

Menschen für das „Neue Normal“ empowern

Auch das Team „Hybrid als New Normal“ blickt in die Zukunft. Auf der Basis einer Befragung von zwei agilen Leuchtturmteams aus dem Bereich Digital Solutions und dem Vertrieb hat es die zentralen Erfolgsfaktoren für die Gestaltung einer idealen hybriden Arbeitsumgebung identifiziert. Hieraus sind inzwischen konkrete Handlungsempfehlungen und ein „Team-Knigge“ entstanden. Beides soll Mitarbeitende und Führungskräfte für das „Neue Normal“ empowern. In Kooperation mit dem Bereich Talentmanagement und den Expertinnen und Experten für Mitarbeitenden-Experience, die bei Atruvia das New-Work- Projekt „Campus 2020“ vorantreiben, sollen beide Instrumente auf der Abschlussveranstaltung vorgestellt und im Unternehmen verbreitet werden.“Die Voraussetzungen sind geschaffen. Jetzt sind wir Teams dran“, findet Dorota Buczynski, Scrum Master im Tribe Data Security and Identity, Advanced Intelligence.

 

Und es geht weiter

Allen ist wichtig, dass das, was sie erreicht haben, nicht einfach in der Schublade verschwindet, sondern im Idealfall eine „Sogwirkung“ entfaltet. „Unsere Arbeit soll nicht umsonst gewesen sein.“ So bringt es Susanne Leifert, Chapter Guide im Support, auf den Punkt. Wird das Lab zu einem Nukleus für nachhaltige Veränderungen im Unternehmen? Gelingt es, Genderdiversität zum integralen Bestandteil des Transformationsprozesses zu machen? „Das Praxislaboratorium hat es geschafft, den neuen Möglichkeitsraum zu erschließen, der bei Atruvia mit der agilen Transformation entstanden ist“, sagt Anja Bultemeier, Wissenschaftlerin an der FAU Erlangen-Nürnberg. Mit der Arbeit im Praxislaboratorium konnten die Beteiligten neue Netzwerke knüpfen, den eigenen Horizont erweitern, neue Sichtweisen kennenlernen und an der einen oder anderen Stelle die eigene Haltung auch noch einmal überdenken. Dass es auch nach dem offiziellen Ende des Praxislaboratoriums weitergehen soll, finden nicht nur die Forscherinnen super. Auch der Lenkungskreis ist begeistert von der „Wahnsinnsenergie“, den „Megaideen“ und den tollen Ergebnissen. Er ermuntert die, die sich im Lab engagiert haben, ihre Anliegen weiter selbstbewusst voranzutreiben. Damit ihr Spirit nicht verloren geht, heißt es jetzt: „Dran bleiben“.


Werkstattbericht Atruvia AG  |  Zurück zur Übersicht

Weiter zu: Interview Maier & Mild